(12) Schaffen wir den Weg?

An diesem Montagmorgen, ca. 3 Wochen vor Kriegsende, erinnere ich mich noch ganz genau. Es war ca. 7 Uhr, als ich mit meinem Bruder aus dem Haus trat, um zur Schule zu gehen. Mutter ermahnte uns: "Seid vorsichtig, versteckt euch, wenn ihr die Tiefflieger seht!" Mit einem mulmigen Gefühl im Magen ging ich mit meinem Bruder los. Ich schaute mich immer wider um.

Von weitem hörte ich das Abwerfen von Bomben und Explosionen. Plötzlich sah ich überall Feuer und Rauch aufsteigen. In der Nähe unseres Hauses brannte es auch. Mir schossen die Gedanken nur so durch den Kopf. Ich dachte immer wieder: "Hoffentlich steht unser Haus noch! Was machen Mutter und Vater gerade in diesem Augenblick? Wird unsere Familie diesen Krieg noch überstehen?" Dann wurden meine Gedanken jäh unterbrochen. Ich hörte den Motor eines Flugzeugs. Panische Angst ergriff mich. Mein Bruder schrie mir zu: "Schnell, hinter das Gebüsch!" Dort sprangen wir versehentlich in eine riesige Pfütze. Doch das interessierte mich vorerst nicht. Hauptsache, wir hatten uns versteckt. Dann flog der Tiefflieger mit einem ohrenbetäubenden Lärm über uns hinweg. Mein Bruder schien erleichtert zu sein. Während wir aus dem Gebüsch krochen, uns die Kleidung abputzten und unseren Weg fortsetzten, kam der Tiefflieger zurück. Ich fragte meinen Bruder: "Was sollen wir machen? Hier sind keine Büsche, Bäume oder ähnliche Verstecke! Zum Zurücklaufen ist es zu spät!" Mein Bruder machte eine ausweglose Miene. "Was sollen wir machen?!" rief er in panischer Angst. Ich fragte mich: "Ist das das Ende?" Doch mein Bruder nahm mich an der Hand und schrie: "Schnell, komm mit!" Dort unten an der Becke ist eine Brücke, unter der wir uns verstecken können!" Weil es für uns keinen anderen Ausweg gab, ging ich mit. Nun kam das Motorengeräusch des Flugzeugs immer näher und ging über uns hinweg. Fast total nass krochen wir unter der Brücke hervor.

Ich hatte die Hoffnung schon fast aufgegeben, dass wir jemals an der Schule ankommen würden. Mein Bruder sagte: "So geht das nicht weiter! Ich kenne einen Schleichweg, wo wir ungesehen zur Schule kommen!" In diesem Moment konnte ich nicht sagen, ob ich glücklich war über den Schleichweg oder ob ich mich über meine schmutzige, nasse Kleidung ärgerte. Jedenfalls ging ich mit meinem Bruder den Schleichweg entlang. Unterwegs fragte ich meinen Bruder: "Warum sind denn so viele Löcher in der Erde?" Er antwortete mir: "Das sag ich dir einmal, wenn du älter bist!" Später habe ich dann erfahren, dass das Bombenlöcher waren. Weil ich immer noch Angst hatte, wurden meine Schritte immer schneller. Jetzt hörten wir keine Motoren der Tiefflieger mehr. Ich war sehr erleichtert. Dann sahen wir auch schon unsere Schule. Ich war noch nie so glücklich über den Anblick dieses Gebäudes, wie jetzt.

Doch was war das? Wir hörten wieder Tiefflieger, und diesmal war es nicht einer, sondern es waren mehrere. Was sollten wir machen? Kein Gebüsch, keine Bäume, keine Brücke! Mein Bruder war auch sehr erschreckt. Doch er behielt einen klaren Kopf. Er schrie: "Schnell, wir müssen, so schnell es geht, zur Schule rennen." Gesagt, getan. Es waren noch knapp 100 Meter bis zur Schule. Ich raste los, so schnell es ging. Mein Bruder sah hinter uns schon die Tiefflieger. Jetzt hatten wir noch 60 Meter vor uns. Ich fragte mich immer wieder: "Ob wir das wohl schaffen? Kommen wir wohl noch lebend an der Schule an?" Doch für solche Gedanken war im Moment nicht die richtige Zeit. Wir kamen der Schule immer näher. 50 m, 40 m, 35 m. Da auf einmal fiel ich über einen Stein. Ich verstauchte mir meinen Knöchel. Mein Bruder, der schon einen Vorsprung hatte, kam zurück und rief: "Mensch, mach keinen Quatsch! Steh auf und stütz dich auf mich!" Ich sah, dass es fast keinen Sinn hatte, da die Flugzeuge schon gefährlich nah waren. Auf meinen Bruder gestützt humpelte ich auf die Schule zu. Es waren noch 30 m, 20 m, 10 m. Ich fragte mich: "Wer wird eher an der Schule sein? Die Flugzeuge oder wir?" Dann stürzten wir in die Schule hinein. Wir hatten es um Haaresbreite geschafft. Über unsere Köpfe brausten ca. 6-8 Flugzeuge hinweg.In der Schule erholten wir beiden uns von den Strapazen. Dann gingen wir beide hinunter in den schuleigenen Bunker. Dort erst fühlten wir uns sicher. Noch heute frage ich mich, wie wir das nur geschafft haben.
(Andrea Malzahn)