(5) Flucht in die Rekener Berge

Es war mitten in der Nacht im Frühjahr des Jahres 1945, als mich meine Mutter aufgeregt aus dem Schlaf riss. Ich war damals 5 Jahre alt. Zuerst wusste ich nicht, was das bedeuten sollte. Doch dann sagte sie mir, dass wir schnell in den nächsten Bunker müssten, weil Fliegeralarm war. Anzuziehen brauchten wir uns nicht, denn wir hatten alle Kleidung, bis auf die Schuhe, an.

Ich hatte insgesamt sechs Geschwister. Der nächste Bunker war ca. 60 m von unserem Haus entfernt. Unser Haus lag direkt neben der alten Kirche, so hatten wir besonders große Angst, dass es von einer Bombe getroffen würde. Als wir nach draußen traten, merkten wir, dass es überall nach Qualm roch. Ich hatte riesige Angst, von einer Bombe getroffen zu werden. Zwei von meinen älteren Brüdern nahmen mich an die Hand. Dann rannten wir alle los. Wir musste ein Stück die Straße entlang rennen und dann die heutige Hauptstraße überqueren. An der dortigen Straßenecke war ein Schreibwarengeschäft, auf dessen Hof sich ein Bunker befand. Als wir endlich dort angelangt waren, trug mich ein etwas älterer Mann, der einen langen Bart hatte, die steile Wendeltreppe herunter. Es wurde allerhöchste Zeit, denn die Motorengeräusche der Flugzeuge, die man jetzt hören konnte, wurden immer lauter. Gott sei Dank, wir waren, so glaubte ich jedenfalls, in Sicherheit. Doch wenn wirklich eine Bombe auf das Grundstück gefallen wäre, hätte der Bunker auch nichts genutzt.

Am Eingang standen einige Männer, die sich aufgeregt unterhielten. Auf dem Boden waren aus Stroh und einigen Decken provisorisch einige "Betten" gemacht worden. Dort setzten wir uns hin. Als meine Mutter sich versichert hatte, dass wir alle da waren, atmete sie auf.

Nach ca. 5 Minuten kam unser Nachbar, den wir Kinder immer Onkel Heinz nannten, die Treppe heruntergestürmt. Er war sehr aufgeregt und sagte uns, dass wir versuchen müssten, in die Rekener Berge zu fliehen, weil dort Wald war. Wir nahmen uns vor, zu Vaters Elternhaus zu gehen, das dort oben in den Wäldern lag. Dort konnte man sich einigermaßen sicher aufhalten. Die Männer, die am Eingang standen, sagten, dass es eine schlimme Nacht werden würde. Wir warteten einen günstigen Augenblick ab und rannten dann ein Stück die Straße entlang, die heute zum Schwimmbad führte. Zwei Häuser weiter war der nächste Bunker. Dort hielten wir uns etwas länger auf. Da ich neugierig war, kletterte ich die Treppe hinauf und krabbelte zwischen den Beinen der Erwachsenen zum Ausgang. Als ich zum Himmel schaute, wollte ich meinen Augen nicht trauen. Es war für mich ein schreckliches, aber trotzdem faszinierendes Bild, das sich mir bot. Der Himmel wurde wie von Blitzen immer wieder erhellt. Die Flugzeuge flogen wie Mückenschwärme über uns hinweg. Doch lange konnte ich diesem Schauspiel nicht unbemerkt zusehen. Eine Weile später, als wieder alles ziemlich ruhig war, gingen wir weiter. Ich hatte plötzlich nicht mehr so große Angst wie vorher. Der Wald war nur noch einen Katzensprung weit entfernt. Plötzlich tauchten am Himmel wieder Flugzeuge auf. Wir gingen schnell unter einige dichte Sträucher in Deckung. Es gab einen riesigen Knall. Der Bunker, in dem wir uns vorher aufgehalten hatten, war von einer Bombe getroffen worden. Wie ich später erfuhr, befand sich zum Glück niemand mehr im Bunker.

Meine Angst, von einer Bombe oder einem Bombensplitter getroffen zu werden, wurde immer größer. Wir gingen immer wieder zwischen den Sträuchern am Wegrand in Deckung. Plötzlich merkten meine Brüder, die mich an der Hand hielten, dass meine Eltern und meine Geschwister nicht mehr zu sehen waren. Ich bekam wieder Angst und begann zu weinen. Doch mein Bruder nahm mich in den Arm und sagte mir, dass Vater und Mutter bestimmt am Waldrand warten würden. Als wir am Waldrand ankamen, mussten wir enttäuscht feststellen, dass dort niemand war. Ich wollte rufen, bekam aber vor Angst kein Ton heraus. Also mussten wir versuchen, alleine zu Opas Bauernhof zu gelangen. Zum Glück kannten meine Brüder den Weg durch den Wald wie im Schlaf. Im Wald wurde es stockdüster. Ich klammerte mich fest an die Hände meiner Brüder. Im Wald befand sich ein Schützengraben neben dem anderen. So gingen wir immer in den nächsten Graben, lauschten, ob Flugzeuge kamen und gingen dann wieder in den nächsten. Als wir einige Zeit gegangen waren, kamen wir an eine Wiese, die mitten im Wald lag.

Was ich dort sah, war für mich eines meiner schrecklichsten Erlebnisse. Überall lag von Bombensplittern getroffenes Vieh. Die ganze Wiese war ein einziger blutiger Platz. Viele von den Tieren lebten noch und mussten fürchterliche Qualen erleiden. Auf der Wiese waren auch einige Bauern, die das Vieh notschlachten mussten. Ich fing vor Schreck und Grauen an zu schreien, drehte mich um und klammerte mich, so fest ich nur konnte, an meinen Bruder. Meine beiden Brüder waren genauso erschüttert wie ich. Einer von ihnen nahm mich auf den Arm und ging mit mir am Rand der Wiese entlang, um wieder in den Wald zu gelangen. Ich war froh, als wir wieder im dunklen Wald waren. Nach ungefähr einer Dreiviertelstunde kamen wir an einen Jägerzaun. Wir hatten es geschafft, denn das war der Zaun von Opas Bauernhof. Wir kletterten über den Zaun und rannten schnell über den Hof. Unsere Eltern, Geschwister und Großeltern standen wartend in der Tür zur Tenne. Als sie uns sahen, kamen sie uns entgegen gerannt. Sie nahmen uns in die Arme und waren heilfroh, dass uns nichts passiert war. Wir gingen in die große Küche, und Oma gab uns eine große, heiße Tasse Kakao. Das war damals etwas ganz Besonderes. Wir hielten uns etwa zwei Wochen bei den Großeltern auf. Dann konnte uns Opa mit Pferd und Wagen wieder ins Dorf bringen.
(Michaele Wanders)